Vor nunmehr einem Monat wurde ich von einem Riesen verschluckt. Ich schaue gerade schräg aus meinem Zimmer des Student Hostels in einen strahlend blauen Himmel.
In der Ferne Vogelgezwitscher dann das Aufgrölen von Motorrädern, verschiedenste Hupen und das Brummen eines vorbeifliegenden Flugzeugs. Bisher hat mich die Reise durch diesen Riesen durch verschiedene Auf und Abs gebracht.
Wenn man in Indien lebt, fühlt es sich so an als hätte man einen neuen Kontinent betreten. Alles hier ist gewaltig, uralt, gemächlich, würdevoll und dann doch irgendwie unglaublich verworren, langläufig und kompliziert.
Sucht erst gar nicht nach den Gemeinsamkeiten, denn derer gibt es keine…, begrüßte uns die Rektorin der Fakultät für Management.
Ich habe auch nicht alle Inder verstanden und ich bin selber eine Inderin., lacht mein Studybuddy über einem Bier in einer Kneipe, die abendlich so rappelvoll ist, dass man Tage im Voraus einen Sitz reservieren muss.
Es gibt Bier und es gibt Kneipen, das würde man auf den ersten Blick doch als Gemeinsamkeit verzeichnen können. Aber zugegebenermaßen, die Interaktion ist mir doch nachwievor ein großes Rätsel.
Ich möchte gerne indische Kultur verstehen, die Sprache lernen und mich in Freundschaftsgruppen meines Alters integrieren.
Doch vorerst ist da offensichtlich eine unsichtbare Wand, die sich Kultur nennt. Die deutsche und indische Kultur ist sehr weit voneinander entfernt. Da sind natürlich die offensichtlicheren Dinge, wie die arrangierte Ehe, die gerade einen epochalen und in Jahrtausenden einzigartigen Wandel durchläuft.
Da wäre die strikte Trennung von Mann und Frau im Zug, im Hostel oder in den Sportgruppen. Es gibt aber auch durchaus weniger aufdringliche Aspekte, wie die Geste des Trinkgeldgebens, die ich bis jetzt nicht verstanden habe.
Oder das praktisch vollkommen ausgestorbene „Namasté“, dass den Indern jedoch meist ein Lächeln auf die Lippen zaubert.
Zuletzt gibt es natürlich noch das Kastensystem, dessen zutiefst diskriminierende Auswirkungen auf das intermenschliche Zusammenleben stets an der Oberfläche zu brodeln scheinen, jedoch beinahe nie hervortreten.
Vielleicht ist das auch eine Projektion meinerseits. Wie übrigens alle die von mir geschilderten Erfahrungen stets sehr subjektiv gefiltert sind und ihre Richtigkeit der geehrte Leser stets anzuzweifeln hat.
Dieser Riese durchläuft nun also gerade einen gewaltigen Wandel. Wie eine Schlange die ihre alte Haut ablegt. Oder vielleicht gar wie eine Raupe, die sich verpuppt um zum Schmetterling zu mutieren.
Wobei dieses Bild wohl zu wertend ist. Doch aus meiner Perspektive ist die Einschätzung klar.
Die Generation von Indern mit denen ich in den Vorlesungen sitze, haben ein anderes Weltbild als ihre Eltern: Sie wünschen sich eine liberale Öffnung Indiens. Eine Ehe aus Liebe und ein freies, rauschendes Fest an den Wochenenden, in denen die Lebensfreude im Mittelpunkt stehen soll.
Und diesen Lebensstil bringen sie nach außen. Pune ist eine Stadt die vieles zu bieten hat in dieser Hinsicht, gerade da sie in aller erster Linie eine Studentenstadt ist, die nun mal vier Millionen Einwohner hat.
Der „Kampf“ der sich jetzt gerade in Indien vollzieht, könnte Parallelen haben. Parallelen zu dem, den damals unsere Eltern mit ihren ausgefochten haben. Auch damals ging es um die Liberalisierung der Werte und des Lebensstils.
Hier spüre ich auch einen Missmut vieler älterer Menschen über die Veränderung. Das Festhalten an Jahrtausenden voller Traditionen und Werten. An Bräuchen und Riten, die zugegebenermaßen auch ihren Zauber in sich tragen.
Doch wenn ich diese fatale Einschätzung machen darf: Sie könnten alle aussterben und der „Mainstream“, die vorherrschende, westliche, liberale Lebensart Überhand nehmen.
Wenn Indien den Lauf der anderen Nationen nachahmt, könnte er sich einige Generationen von Kindern später vollkommen etabliert haben. Auch hier fällt mir, als Kind dieses Systems, meine persöhnlich Meinungsfindung nicht schwer. Ich wünschte mir beinahe, dass Indien bereits aus dem Kokon geschlüpft, zugleich aber der bunte Zauber der vergangenen Tage nicht erloschen wäre.
Und hier wird sich schließlich zeigen, ob Indien es schafft seine einzigartige und vielleicht einmalig reiche Kultur in eine neue Lebensform hinüberzuretten. Oder ob auch dieser Traum aus tausend und einer Nacht, schließlich zu Ende geträumt ist.
Written 10th of November, 2017
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