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Kapitel 3

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Als Lestavi langsam die Augen öffnete, sah er hinaus in eine schwarze, kalte und tote Nacht. Das Einzige was er ausmachen konnte, waren strahlend weiße Feder, die ihm vollkommen surreal erscheinen wie in einem schlechten Theaterstück inszenierte Effekte. Langsam tanzten, dem Chaos und der Verrücktheit dieser Welt scheinbar nicht ausgesetzt, einige dieser Federn durch die Luft und näherten sich ihm, ohne dass es ihm schien, dass es ihnen etwas ausmachte ihren Platz am Firmament zu verlassen.

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Es war ein seltsam schöner Anblick diese Federn vollkommen schwerelos gleiten zu sehen, ein Anblick, der ihn in irgendeiner Art und Weise zur Ruhe brachte und seine Gedanken an die vergangene Katastrophe einfach auslöschte. Beinahe behaglich kam schließlich eine der Federn auf seiner Brust zu ruhen. Er spürte keinerlei Druck, nur eine absonderliche Art der Faszination für dieses ansonsten recht gewöhnliche Ding aus dieser Welt. Als er sich erhob, fühlte er sich beinahe so leicht, wie sich die Feder gefühlt haben mussten, als sie ihren Weg hier hinab gekommen war.

 

Er ergriff die Feder, als sie gerade gen Boden trudeln wollte und stellte mit großer Überraschung fest, dass er keinerlei Schmerzen fühlte. Dann atmete er langsam aus. Der Vorgang war mit einer Art Seufzen verbunden, die scheinbar aus dem tiefsten inneren seines Körpers kam. Das Geräusch war unnatürlich laut, ja es schien das einzige Geräusch zu sein, das überhaupt existierte und somit den gesamten Klangraum seiner Welt einnahm. Langsam richtete sich Lestavi auf und schaute sich um. Es war ein langsamer, eiskalter Griff in seine Eingeweide. Er war nicht im Himmel. Er stand inmitten einer ehemals prächtigen und stolzen Stadt, die auf ihre Grundrisse herab gebrannt war. Überall lagen Schutt und Asche, verbranntes Holz und eingestürzte Gebäude.

 

Er stand inmitten des Marktplatzes, auf dem er zusammen gebrochen war, die nächsten Hausruinen waren ungefähr fünf Meter von ihm entfernt. Das Einzige Konstrukt, das den Flammen widerstanden hatte, war ein fünfzehn Meter hoher alter Wehrturm, der zur Aussicht über das untere Finanzviertel gedient hatte. Lestavi kniff die Augen zusammen, als er erkannte, dass auf der Spitze dieses Turmes eine Gestalt stand. Die Haut der Person war unnatürlich weiß und reflektierte das Mondlicht, das nun langsam durch die vielen Wolken brach und die Ausmaße des verheerenden Brandes klar, beinahe mahnend in seinem faden Licht präsentierte. Doch Lestavi konnte nicht den Blick von der seltsamen Gestalt auf der Spitze des Wehrturmes abwenden. Es schien ihm ein Mann zu sein, der keinerlei Kleidung trug und dessen langes schwarzes Haar hinter ihm im Wind wehte. Er statt dort mit einer Art lässiger Eleganz, als wäre es vollkommen natürlich nicht im dafür vorhergesehen Ausguck, sondern auf der Spitze des Daches zu stehen. Lestavi legte den Kopf schief und versuchte mehr Details auszumachen. In seiner rechten Hand hielt der Mann eine Art Stab aus einem vollkommen schwarzen Material, das sich vor dem dunklen Himmel kaum absetzte. Vielleicht handelte es sich auch um einen Speer.

 

Plötzlich fuhr Lestavi ein Frösteln über den Nacken den Rücken herunter. Dieses ominöse Wesen hatte keinerlei Geschlechtsteil. Lestavi machte einen Schritt nach vorne und als seine Stiefel den Stein berührten gab dieser ein überdeutliches Knirschen von sich, das Lestavi erschreckend laut erklang. Wie als hätte der Mann auf dem Turm das Geräusch auch gehört zuckte plötzlich sein Kopf in einer kaum wahrnehmbar schnellen Bewegung herum und es erschien Lestavi, als würde er ihn über die Distanz hinweg direkt in die Augen schauen. Plötzlich brandete Panik in seiner Brust auf. Diese Bewegung war zutieft unmenschlich gewesen, was auch immer es war, es war nicht natürlich und er sollte nicht hier sein, nicht jetzt! Panisch setzte er zwei Schritte zurück. Erneut überlautes Knirschen und Rascheln seiner Gewänder, es erschien ihm als würde jedes der Geräusche durch irgendeine Art von Trick vervielfacht und jedes andere Geräusch vollkommen unterbunden, oder einfach als ob es keine anderen Geräusche mehr gab auf dieser Erde, außer die von ihm erzeugten.

Sein nun schneller Atem toste in seinen Ohren und er fühlte wie sich alle Härchen auf seinem Rücken der Reihe nach aufstellten. Sein Schweiß rann ihm unbehaglich kalt über den Körper und er fühlte wie sich einzelne Rinnsale bildeten und durch die Furchen seiner Haut flossen, ja er konnte jeden einzelnen Tropfen auf seiner Haut wahrnehmen! Er schaute seine zitternde Hand an. Sie erschien merkwürdig unnatürlich, wie als wäre sich nicht Teil seines Körpers, sondern ein eigenes, für sich funktionierendes Organ. Wieder richtete er den Blick auf die Spitze des Wehrturmes. Das Wesen stand immer noch da und schaute ihm geradewegs in die Augen. Auch wenn es praktisch unmöglich war, es auf die Distanz zu erkennen so erschien es ihm als würde es lächeln. Es war kein freudiges Lächeln. Es war kalt, nicht normal, so wenig von dieser Erde, wie das Licht des Mondes, durch das das Lächeln makaber zur Schau gestellt wurde.

Die Gestalt ließ sich ein wenig in die Knie sinken und dann schnellte der gesamt Körper nach oben. Lestavis Mund formte ein kleines O, als er die Kontrolle über seine Mimik verlor, denn er sah wie dieses Wesen jeglichen Gesetzen der Göttern widerstrebte, in dem es mit einem Sprung, der eigentlich tödlich auf dem Asphalt enden müsste, in der Schwärze der Nacht viele dutzend Meter über ihm verschwand. Er starrte in den schwarzen Himmel, die Spitze des Wehrturms war verlassen und für einen Moment war sein panisches Gehirn geneigt zu glauben, dass dies alles nur ein illusorischer Alptraum war, vielleicht auch ein Nahtoderlebnis. Dann brach ein weißer Blitz hinab aus den Wolken auf ihn zu. Kein Blitz nein, sondern das Monster das zuvor auf dem Wehrturm gestanden hatte. Es landete kaum einen Spaltbreit vor ihm und für einen kurzen Augenblick schaute Lestavi in vollkommen abgrundtief schwarze Augen, die keinerlei normales Weiß beinhalteten, als hätte sich die Iris über das komplette Auge ausgeweitet. Das Etwas vor ihm federte den Sprung ab, als wäre es gerade von einem ein Meter hohen Vorsprung gesprungen.

Während dieses kurzen Augenblickes waren die beiden auf Augenhöhe, doch als sich das Wesen wieder aufrichtete überragte es Lestavi um gut zwei Kopf, so dass er nur geradeaus auf stark ausgeprägte Brustmuskeln starrte, auf denen keine Brustwarzen saßen. Es schien ihm, als könnte sein Organismus das Geschehen gar nicht verarbeiten und er fühlte sich nur dumpf und taub, wie er so betäubt geradeaus starrte. Dann überfiel ihn alles wie ein Wasserfall, der über ihm zusammenbrach. Wieder unnatürlich klar nahm er die kleinen Rinnsale aus Schweiß war, die ihm durch die Furchen und Falten seines Körpers flossen, rasend schnell, wie ein dahinströmender Fluss. Vollkommen elektrisiert fühlte er sich plötzlich, spürte wie sich jedes einzelne Härchen an seinem Körper aufstellte, jedes Einzelne konnte er fühlen, wie eine Armee winziger, selbstständiger und trotziger Grashalme. So lebendig. Das Blut strömte durch seinen Körper, verlieh ihm Lebenskraft und sein Herz pumpte wie mit doppelter Geschwindigkeit, so schnell, dass er nicht in der Lage gewesen wäre, mitzuzählen und doch fühlte er jeden Schlag über klar in seiner Brust pochen.

Ein kämpferisches Lächeln legte sich auf seine Lippen und er legte den Kopf in den Nacken, um dem Blick seines Gegenübers begegnen zu können. Das Wesen vor ihm lächelte auch. Doch es war kein kämpferisches, kein überhebliches, kein seliges, kein glückliches und kein freundschaftliches Lächeln. Er hatte einfach die Muskeln in seinen Mundwinkeln angespannt. Vielleicht ist das ja das Lächeln eines Toten, dachte sich Lestavi noch. Dann schon hatte das Wesen vor ihm in am Hals gepackt und einen Meter in die Luft gehoben. So gerne er reagiert und sich verteidigt hätte, er hatte keine Bewegung wahrnehmen können und realisierte erst was passierte als sich die Hand um seinen Hals geschlossen hatte und er plötzlich auf das Monster herunterblickte.

 

Ein Gurgeln kam aus seinem Hals. Wieder leicht verspätet spürte er die Reaktion seines Körpers. Panik, Angst, Hass und Machtlosigkeit. Er fühlte sich als hätte jemand einen Halm in ihn gerammt und die gesamte Energie, die er für eine Sekunde gefühlt hatte, raste nun aus ihm heraus. „Bastovimshavus. Kragumaskandale?“. Die Laute kamen aus dem Mund des Monsters vor ihm. Es klang hart und vollkommen gefühlslos, doch seine Lippen und die perfekten, vollkommen weißen Zähne bewegten sich überraschend menschlich, während er redete. Lestavi starrte ihn wieder an. Er war es satt. Genügend Scheiße war passiert, während Sonne und Mond das letzte Mal über den Himmel gekrochen waren. Auch wenn er sich fast hätte einnässen können und am liebsten einfach geheult hätte, nein am allerliebsten endlich schnell gestorben wäre, guckte er dem Wesen trotzig in die Augen.

„Kannst du kein Strevisch?“, fragte er als Gegenantwort. Während die Worte noch über seine Lippen kamen, kam es ihm unglaublich absurd vor, dass er das tatsächlich gerade gesagt hatte. Wie in einem Traum, von dem man weiß, dass es ein Traum war und deshalb machen konnte, was man wollte, auch wenn es sich vollkommen komisch anfühlte. Wieder das unmenschliche Lächeln. Einen Moment schweigen, in dem sich beide nur anstarrten. Dann musste Lestavi den Blick abwenden. Ein Schluchzen kam aus seiner beengten Kehle und sein Blick verschwamm als sich seine Augen mit Tränen füllten. Die Historiker und Geschichtenschreiber hätten gelacht über ihn, aber er konnte jeden Mann verstehen, der im Angesicht des grausamen Nichts, das sie Tod nannten, noch einmal die Umarmung seiner Mutter herbeisehnte.

Sich noch einmal geliebt und umsorgt fühlen wollte. Dann fühlte er eine weiche Hand an seinem Kinn, die seinen Kopf mit Bestimmtheit nach oben rückte. Immer noch das Todeslächeln. Die Hand hatte auch nicht seiner Mutter gehört, sondern dem Tod. Ja vielleicht war das tatsächlich Lucifer. Er hatte nie an so etwas geglaubt, aber wie konnte er jetzt noch zweifeln? An Gottes Existenz ja… Erneute bewegten sich die bleichen Lippen des Wesen, das ihm fest an der Gurgel umschlossen hielt: „Ich. Bin. Dein. Richter.“, die Worte klangen erneut erstaunlich vertraut, wie als wenn sie ein Mensch gesprochen hätte, nur das der Klang immer noch unnatürlich laut und alles einnehmend war.

 

Lestavi spürte, wie sich der Griff um seinen Hals löste, als er senkrecht in die Luft geworfen wurde. Für einen Moment fühlte er sich wie eine Feder. Frei. Dann Griff das Gesetz der Götter nach ihm und zog ihn nach unten. Kurz war sein Blick wieder auf derselben Höhe, wie der seines Gegenübers. Er hatte den rechten Arm nach hinten verlagert, den langen, schwarzen Speer in seiner Hand. Blitzschnell schoss der Speer nach vorne und durchbohrte die Mitte seines Oberkörpers. Die gewaltige Kraft riss Lestavi nach hinten und er flog mitsamt dem Speer an die Überreste einer Mauer aus Lehm, an der ihn der Speer festnagelte. Ein bluterfülltes Würgen kam aus seinem Mund, sein ganzer Körper spannte sich an zuckte einmal, wie ein aufgespießter Fisch. Ein Schwall aus Blut schoss aus seinem Mund hervor. Dann hing er nur noch zusammengesackt am Speer, während mehr und mehr Blut aus der Wunde an der Brust, aus seinem Mund und seiner Nase lief, Schlieren über seinen Körper zog auf dem Weg nach unten, dem Boden entgegen. Seine Augen starrten auf den Boden unter ihm. Sein Blick verschwamm immer wieder, wurde kurz wieder scharf und ließ ihn dann erneut im Stich. Der braun, schwarz, verkohlte und Millionen Jahre alte Grund unter ihm gewann mehr und mehr die Farbe eines dunklen rot, während sich eine Lache aus seinem Blut bildete. Lestavi streckte langsam die kraftlose Hand aus, versuchte den Boden zu erreichen.

 

Doch er war gut einen Meter über der Erde aufgespießt und so sackte der Arm wieder hinab. Er war vollkommen losgelöst von Allem, hing in der Luft, kontaktlos zum letzten Teil dieses verfluchten Ortes, der ihn daran erinnert hätte, dass er ein Mensch war. An der Wand aufgehängt, wie ein erlegtes Tier. Merkwürdigerweise spürte er keinen Schmerz. Wahrscheinlich war er zu nah an der Schwelle des Todes, um noch irdischen Gesetzen unterworfen zu sein. Er sammelte seine Kraft, um den Kopf zu heben und ein letztes Mal dem Blick seines Mörders zu begegnen. Die kalkweiße Gestalt ging mit langsamen, aufrechten Gang auf ihn zu. Auf seinem makellosen, strengen Gesicht zeigte sich keinerlei Regung mehr.

 

„Warum?“, fragte sich Lestavi. „Warum… warum muss ich eine Katastrophe überleben, in der alle Menschen umgekommen sind, die ich je gekannt habe, nur um direkt im Anschluss hingerichtet zu werden, wie ein Verbrecher? Welche Schuld habe ich? Welche…“ Der Gedanke verlief sich in den weiten seiner Hoffnungslosigkeit, die ihn betäubte, wie Eis, das sich langsam durch seinen Körper fraß. „Warum noch nachdenken? Gleich bist du tod…“ Ungefähr drei Meter blieb die Gestalt vor ihm stehen. Dann hob er einen der unnatürlich langen Arme und hob die flache Hand über den Kopf, sodass eine Handkante in die Richtung von Lestavi deutete. Die rechte Hand ballte er zur Faust und legte sie sich auf die Brust.

Dann führte er die linke Hand in einer senkrechten Bewegung vor seinem Oberkörper nach unten. Lestavi konnte sich des feierlichen Charakters dieser Bewegung nicht ganz entziehen. Ein blutiges Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. „Ich würde… klatschen.“ Er verschluckte sich am Blut in seinem Mund und fing an zu husten. Mit jedem Ruck seines Oberkörpers flog ein neuer Schwall Blut auf den Boden vor ihm. „Aber du siehst… kann grade nicht so…“ Der Rest der Worte ging in einem erneuten Hustreiz unter.

 

Plötzlich zuckte Lestavi zusammen, als die widernatürlich Stille die nur durch sein Flüstern, Husten und Stöhnen, sowie dem steten Tropfen des Blutes unterbrochen worden war, nun durch eine mächtige, sichere Stimme durchbrochen wurde. „Hastanaruchkiwahsa. Demonudusmagnetamus.“

Lestavi richtete den Blick noch einmal nach vorne. Diese kleine Bewegung der Augen kostete ihn unheimlich viel Kraft. Sein Richter hatte seine Arme gen Himmel gestreckt, wie als wolle er etwas umarmen, das heruntersteigt. Sein Blick war auch nach oben gerichtet. Durch den Schimmer aus Blut meinte Lestavi erneut ein Lächeln auf seinen Lippen erkennen zu können. Ein versonnenes, wissendes Lächeln. „Wir. Sind. Verurteilt.“ Die Worte wanderten durch den Kopf von Lestavi, wie ein einsamer Löwe auf endlos weiter, leerer Prärie. Es bildete sich kein Urteil mehr, kein Gedanke, der sich mit dem Löwen auseinandersetzen wollte. Er war allein.

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Dann entstand ein Getöse, das den Raum aus unnatürlicher Stille zusammenbrechen ließ, wie ein Kind, das gegen eine Burg aus Sand trat. Abertausende von Geräuschen mischten sich und erzeugten eine Symphonie der Zerstörung, die über Lestavi herschwappte und seinen leblosen Körper erzittern ließ. Für einen Augenblick meinte er, dass die normalen Gesetze der Natur wiederhergestellt seien, doch dann sah er aus seinem Augenwinkel für einen kurzen Moment etwas, das vollkommen jeglichen irdischen Gesetzen widersprach. Ein gewaltiges, schwarzes Etwas, von der Größe eines Schlosses, fegte durch die Überreste der Stadt, als wären sie Staub. Entfernt erinnerte es ihn an eine Echse, nur weniger ungelenk und fett. Der Körper schien für enorm schnelle Bewegungen geschaffen zu sein, denn er war nur für wenige Augenblicke in seinem Sichtfeld erschienen und dann schon wieder durch die Ruinen in einen anderen Teil der Stadt verschwunden, begleitet von einem hohen Schrei, der schmerzerfüllt und anklagend klang. Er ging Lestavi durch Mark und Bein, ließ ihn erneut erzittern aber nicht, weil er so stark gewesen wäre, sondern weil etwas in dem Ton ihn im innersten berührt hatte. Fast fühlte er sich als wäre der Schrei aus seinem eigenen Innersten gekommen.  

Er verspürte keine Angst mehr, dazu fühlte er sich zu weit weg von diesem Geschehen, auch wenn er noch körperlich anwesend war. Der Kopf seines Mörders war herum gezuckt, in dem Moment als das Wesen für einen Moment in der Ferne aufgetaucht war. Nun hob er die linke Hand und formte mit dem Daumen und den restlichen Fingern einen Kreis. Der Speer, der Lestavi an die Wand gebohrt hatte, wurde plötzlich, vom Ende aus beginnend, flüssig und lief als dunkle Substanz auf den Boden. Lestavi starrte verwundert auf das Ende, das immer näher kam, bis sich schließlich auch die Spitze, die ihn in der Brust durchbohrt hatte, löste. Er fiel der Länge nach herunter, in einen Matsch aus seinem Blut, Erde und Asche. Er hatte keine Kraft den Sturz irgendwie aufzufangen und so schlug sein Gesicht auf einen vom Blut glitschigen Stein auf. Er hörte ein Knacken als sein Wangenknochen brach. Ein tiefes Stöhnen erklang aus seiner Brust, als er bemerkte, dass er diesen Schmerz wiederum sehr real wahrnahm. Er durchzuckte ihn und bereitete sich in seinem ganzen Kopf aus, so dass ihm für einen Augenblick schwarz vor Augen wurde. Wieso war er eigentlich immer noch nicht tot? Sein Gesicht fing unkontrolliert an zu zittern und er fühlte sich plötzlich unheimlich kalt. Kalt und verlassen. Der Tod erschien ihm jetzt eine verlockende Einladung in einen Raum ohne Schmerz, voller Vergessen. Doch er konnte nicht gehen, so sehr er sich es in diesem Moment wünschte. So schlug er noch einmal die flatternden Augenlider auf. Über den Boden vor ihm bewegte sich eine schwarze Schlange auf das weiße Monster mit wehendem schwarzen Haar zu. Die Hand war noch immer zu einem Kreis geformt. Wie dressiert sprang die Schlange empor und schob sich durch die Hand des Monsters. Dann streckte sie sich und formte eine Speerspitze am Ende. Das was das Monster in der Hand hielt war sein Speer. Lestavi schloss erneut die Augen. Diese Welt war noch viel kaputter, als er immer gedacht hatte.

Es fühlte sich so an als könne er sich nun schließlich entspannen. Offensichtlich durfte er jetzt endlich sterben. Der Schmerz hatte sich im ganzen Körper ausgebreitet und sein Körper zitterte nun unentwegt, wie als wolle er im Gegensatz zu Lestavi noch nicht Abschied nehmen. Wenn sein Körper und er entgegensätzliche Dinge wollten, musste das wohl heißen, dass sie nicht ein und das Gleich waren. Die Gedanken waren klar vor ihm. Er war in seinem Körper, kontrollierte seinen Körper, aber er war nicht sein Körper. Zumindest nicht nur sein Körper. Das gab Hoffnung auf mehr nach dem Tod. Und machte viele Dinge seines bisherigen Lebens irrelevant. Ob man wohl kurz vor dem Tod immer Erkenntnisse hatte, die man schon vorher gebraucht hätte? Lestavi musste Lächeln, ob der Ironie, die das Leben umgab. Wenn es Götter gab, dann waren sie gehässig, willkürlich und vor Allem Genießer von Witzen auf Anderer kosten.

Aus den Augenwinkel machte Lestavi aus, wie sein Richter einen Satz nach vorne machte, in die Luft schnellte und im nächsten Moment schon wieder auf dem Dach eines halbeingestürzten Gebäudes einige Meter entfernt landete. Ein weiterer Sprung und er war in Richtung des gewaltigen Ungetüms verschwunden. Lestavi war irgendwie fasziniert von der Kraft und Eleganz, die dieses Wesen mit jeder Bewegung ausstrahlt hatte. Warum musste ein Wesen wie dieses, das über solche Kräfte verfügte, bloß so verkommen sein? Es war das übliche Treiben des Lebens. Wo Macht und Stärke waren, da sammelte sich Boshaftigkeit, Gier und Hass.

So langsam kam Lestavi zur Ruhe. Seine Welt war überraschend klar in diesen Momenten. Er wollte Abschied nehmen und er wollte es mit der Gewissheit tun, dass es endgültig war. Was und ob etwas danach auf ihn zu kam, konnte er jetzt nicht beantworten und deshalb war es müßig sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Der Schmerz war nun gedämpft und fühlte sich so an, als ob er in weiter Ferne sei, genau wie seine Angst und seine Wahrnehmungen grundsätzlich von ihm Distanz genommen hatten, als wollten sie mit dem weiteren Geschehen nicht zu tun haben. Er schloss die Augen, fühlte Kälte und Ruhe, roch Eisen und Erde.

Dann spürte er plötzlich ein Gefühl, als würden an dutzenden Stellen seiner Haut, rund um die Wunde in seinem Oberkörper, Nadeln angesetzt und dann in die Haut gestochen werden. Er konnte diesen neuen, vergleichsweise sanften Schmerz, nicht wirklich zuordnen. Vielleicht war es ein erstes Anzeichen für das Versagen seiner Wahrnehmung oder seiner körperlichen Funktionen. Doch es hörte nicht auf, sondern verstärkte sich mehr und mehr, als sich die Nadeln scheinbar in Linien durch die Haut bewegten. Ausgehend von der Wunde, dem Loch in seiner Brust, schien es, als ob sie Muster in sein Äußeres und Inneres ritzen würden…

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