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ASCHEFLUG

Kapitel VII
Kapitel VI
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XII
Kapitel XI

Kapitel I

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Lest stand in einer endlos weiten, weißen Schneelandschaft. Keinerlei Hindernis traf seinen Blick, nur eine einzige weiße Schneefläche die sich unendlich weit in jede Richtung erstreckte, in die er blickte. Der Schnee reichte ihm bis zu den Knien und sein Atem erstreckte sich in dunstigen Schwaden vor seinem Mund in den kristall-kalten Raum. Es trudelten unaufhörlich kleine kristallene, symmetrisch vollkommene und wunderschöne Schneeflocken aus dem strahlend blauen Himmel. Kein einziger Laut drang zu ihm.

 

Es schien als ob über die komplette Landschaft eine Kuppel gespannt war, um eine völlige, vollkommene Stille zu erzeugen. Diese Stille war nicht flüchtig, sie war allumfassend und doch zugleich nicht greifbar. Lest ließ seinen Blick schweifen über diesen Platz, an dem vollkommener Friede herrschte. Seine Augen erfassten mit einem klarem, beinahe nüchternem Blick. Er zog alles um ihn herum in sich auf, immer und immer weiter, bis er schließlich in dem schneidend hellblauen Himmel über ihm zu versinken drohte.

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Der Himmel schien unnatürlich weit entfernt, unnahbar. Er war von einem blau, wie als wäre er von einem launigen Gott mit einer wilden Hand und einem groben Pinsel bestrichen. Es war eine Farbe, von einer Intensität und Reinheit, wie sie den Menschen bisher vorenthalten wurde. Lest streckte die Hand in das Himmelgewölbe und augenblicklich segelte auf seine Hand eine der vollkommenen Schneekristalle hinab. Woher kommen die Schneeflocken? Sein Blick wanderte umher. Kein fallender Schnee versperrte mehr seine Sicht. Es hatte aufgehört. Ein Lächeln umspielte seine Lippen.

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Als er den Blick wieder in die Ferne richtete, erkannte er wage am Horizont ein schwarzes Etwas, das sich zu bewegen schien. Scheinbar näherte es sich ihm. Lest legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen um es besser erkennen zu können. Er war gespannt, was sich noch außer ihm hier aufhielt. Er hatte keinerlei Angst, nein, wieso auch? Er fühlte die tiefe Vibration aller Wellen seines Seins, die im Einklang an die Pforten jeden Momentes schlugen. Der Moment war perfekt. War er schon immer gewesen. Nein, von dem Geschöpf ging keine Gefahr aus. Und langsam zeichnete sich auf dem gleisenden Schnee ab, dass es sich nicht nur um ein Geschöpf handelte, sondern um eine Reihe Menschen, die in einer scheinbar endlosen Kette kontinuierlich auf ihn zukamen. Sie gingen direkt hintereinander, so nahe, dass es auf die Entfernung aussah, als ob sie eins wären. Die Sonne spiegelte sich auf dem Schnee und strahlender Glanz umrahmte das Bild. Sie waren in dunkelbraune, lederne Umhängen gehüllte Schemen. Umso mehr der schweigsame Zug sich näherte, umso mehr Details konnte Lest ausmachen.

 

Und gleichsam schien es ihm als ob er etwas anderes wahrnahm. Etwas, das aus dem Hintergrund hervorgedrungen war, so unscheinbar, dass er es zunächst gar nicht gemerkt hatte. Ein Ton. Lange, seufzende Töne eines Horn schallten über die endlose Landschaft und versetzen dem Moment einen melodischen, zauberhaften Charakter und mit einem Mal schien es Lest, als ob alles durchdrungen war von einem Glanz, gänzlich anders als dem der Sonne. Es schien als finge alles an, aus sich heraus zu scheinen, als ob die atemberaubend, eisig schöne Natur des Ortes erst gewartet hätte auf den richtigen Moment, um sich zu enthüllen. Der füllende Glanz, der sich über den Schnee hinweg zog und den Himmel ergriff, war allerdings keinesfalls so stark, dass er den jungen Mann blendete, es war nur eine sanfte, schmeichelnde Einfärbung seines visuellen Sinnes. Er wunderte sich, ob dieser Glanz innerhalb der Dinge gerade plötzlich entstanden sei oder ob er schon da gewesen war, er ihn nur nicht wahr genommen hatte.

 

Lest senkte den Blick erneut und nun schien es ihm, als wäre die Karawane aus Wandernden kaum mehr fünfzig Meter entfernt. Und sie steuerte auch nicht direkt auf ihn zu, sie würde ihn vorrausichtlich eher mit fünf Metern Distanz passieren. Er war davon ausgegangen, dass einer aus der Reihe das Horn trug, das ununterbrochen im Hintergrund spielte. Doch er konnte erkennen, dass in der sich endlos in den Horizont erstreckenden Schlange aus Menschen offensichtlich keiner ein Horn trug. Und wenn er sich recht besann, so konnte er die Töne auch keinem definitiven Ausgangspunkt zuordnen, es klang vielmehr als würde der Ton aus der Schneedecke emporsteigen, um anschließend mit dem Wind über die Ebene zu gleiten, ziellos und doch stets ohne Ruh. Der Wanderer, der den endlosen Zug anführte erreichte nun die Höhe von Lest. Er war wie alle in seinem Gefolge in einen dicken, braunen Ledermantel gepackt, der ihm bis zu den Knöcheln reichte. Das Gesicht war verborgen unter der Kapuze des Mantels an deren Rand Fell hervor lugte. Das einzige, was Lest erkennen konnte waren ein scharf geschnittenes Kinn und ein Mund.

 

Es schien ihm auf die Distanz, als ob ein Lächeln um die Lippen spielte. Doch er hörte nicht auf sich zu bewegen oder sah auch nicht zu Lest herüber. In dem unaufhörlichen Gleichschritt bewegte er sich vollkommen im selben Takt, wie die unendliche Reihe, die ihm nachfolgte. Fast als wären sie alle nur eine Person, eine vollkommene einheitliche Bewegung. So begannen sie an ihm vorbei zu ziehen. Kaum einige Meter entfernt, doch gerade so weit weg, dass Lest unter ihren Kapuzen kein Gesicht erkennen konnte. Der Menschenstorm zog langsam und gleichsam an ihm vorbei, einer nach dem anderen. Und wie sie an ihm vorbeigingen, eigentümlich vertraut und friedvoll, schien es Lest, als ob er nun weitere Instrumente vernehmen könnte, die sich  langsam in das melodische Spiel des Horns einreihten und so begannen die getragene, gedämpfte Komposition des Moments zu spielen.

 

Lest blickte auf die geschlossen Reihen von verborgenen Profilen, die an ihm vorbeizogen. Er nahm, außer dem Lied, weiterhin keinen Ton seiner Umgebung war. Obwohl die Stiefel der Wandernden unaufhörlich im Gleichschritt in den Schnee eintauchten und hervorkamen, konnte Lest nicht das charakteristische Knistern des Schnees hören. Nicht das Flattern der Umhänge, die sich links und rechts der Personen, im Winde aufblähten. Und dann ergriff Lest ein eigentümliches Fernweh, eine Sehnsucht nach der Gesellschaft dieser Wandernden, es schien ihm als wollte sein Herz durch seinen Brustkorb brechen und sich einfach einreihen. Und trotz der wenigen Meter, die ihn von der Gruppe trennten fühlte er sich völlig abgeschnitten, wie vor ein Konstrukt gesetzt, das einheitlich war, keiner weiteren Ergänzung bedurfte und dessen eigene Grenzen unüberwindlich waren. So verharrte er. Schaute dem einheitlichen Takt der sich hebenden und senkenden Beine zu und versuchte sich erneut auf den Frieden des Ortes einzulassen. Bedurfte er einer riesigen, anonymen und scheinbar ziellosen Masse, um glücklich zu sein?

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In dem Moment wendete sich ein vorbeigehender Kopf in seine Richtung. Blondes Haar fiel aus der Krempe des Kragens, wurde vom Wind ergriffen und wehte gleichsam des Umhangs hinter der Wandernden im Wind. Doch der Moment war flüchtig, sie ebenso schnell wieder Teil der einheitlichen Masse, wie sie für diesen Augenblick heraus gebrochen war. Ein kurzer Blick in Augen von einem Blau, das dem Himmel über ihm ähnelte, hatte alle vorherigen Gedanken, wie ein Schuss aus seinem Kopf gejagt und zurückgeblieben war alleine das Verlangen loszurennen, sich einzureihen. Es brannte lodernd in ihm und sein Herz klopfte aufgeregt, schien sich im Notfall alleine anschließen zu wollen. Er blickte nach rechts. Panik ergriff Lest, als er erkannte, dass die Reihe sich ihrem Ende näherte. Er schluckte, sein Herz schlug ihm bis zum Hals und sein Gedanken wirbelten. Wieso? Wer waren diese Menschen und wieso wollte er sich so unbegreiflich gerne ihnen anschließen? Es gab doch gar keine reale Verbindung zwischen Menschen. Wie konnte er sich von ihnen so sehr angezogen fühlen?

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Er ließ die Luft, die er angehalten hatte mit einem Mal gehen und tat einen Schritt. Den Kopf starr gesenkt und mit den Augen auf die vorbeiwandernden Personen schielend verharrte er, voller Angst etwas Einmaliges zerstört, die Magie gebrochen, oder gar die schweigsame Reihe aus Menschen verärgert zu haben. Doch nichts geschah. Die Kette fiel nicht aus ihrem Takt, verharrte nicht und schien auch ansonsten den jungen Mann der geraden einen trägen, schweren und krampfhaften Schritt in die dicke Schneedecke gesetzt hatte, wahrzunehmen. Lest richtete sich auf und begegnete der Reihe aus verhüllten Profilen erneut mit einem geraden Blick. Darauf trat eine Gestalt nach links. Der Umhang wölbte sich nun neben dem Mann, der sich nunmehr Schritt für Schritt Lest näherte. Er war von kräftiger Statur auch wenn Lest aufgrund des Umhanges, der den Unterkörper einhüllte, kein genaueres Urteil fällen konnte. Er hatte ein offenes Gesicht umrahmt von schwarzen Locken und einem ebenso schwarzen Bart. Um seine Lippen spielte ein aufrichtiges Lächeln. Diesmal konnte Lest es genau ausmachen. Seine Augen jedoch waren anders. Sie schienen nicht irdisch, fast so als habe die Iris sich gespalten und im Inneren einen weiteren Kern frei gegeben, der dem Mann ein wahrhaftiges, den Irrtümern entzogenes Urteil erlaubte. So  zumindest begegnete er dem Blick von Lest. Lest fühlte sich, als ob er bloß dastand, ohne Geheimnisse, ohne Reue und voller Neugierde. Seine Fragen würden beantwortet werden.

Der Mann blieb einen Meter vor ihm stehen.  

Sein Lächeln verwandelte sich mehr und mehr in ein offenes Grinsen, seinen Augen entsprang ein wilder Geist, wie ein Bergbach der aus den Gesteinen hervor springt, dem endlosen, gütigen Meer entgegen. Er hob sein Kinn und blickte gerade in die erwartungsvollen Augen von Lest.

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Die brilliantenden Schneekristalle fielen weiterhin in einem lautlosen, formvollendeten Tanz der endlosen Schneedecke entgegen. Für einige Augenblicke herrschte eine allumfassende, drückende Stille in dem unendichen Gewölbe unter dem makellos strahlend blauen Himmel. Der Tross der Wandernden entfernte sich Stück für Stück, bald schon konnte man den Leiter der Gruppe nicht mehr in der Schliere der wandernden Köper ausmachen. Lests Herz begann unregelmäßig zu springen, ein heftiger Druck spannte sich über seinen Oberkörper. Bald würden sie außerhalb der Reichweite sein. Er fühlte, dass es an ihm war, die Spannung zu lösen und den Kontakt zu dem Fremden aufzunehmen, doch gleichsam fühlte er sich ohnmächtig sich rechtzeitig richtig zu entscheiden. Er hob den Blick von der Schneedecke und begegnete dem Blick des in einen ordinären Mantel gekleideten Reisenden, dessen Augen Achtsamkeit und Würde befahlen. Die Pupille begegnete seinem Blick und für einem Moment fiel Lest, in den Schnee und hindurch, vergaß über den Anschluss und die Grupee, war eins mit dem Schnee, den Kristallen in ihrem wilden, lebensfrohen Tanz. Dann war er wieder da, sah die Wandernden am Horizont verschwinden. „Willst du ihnen nicht folgen?“, klang es aus Lests Hals, zu gleichem Maße aufgewühlt, wie hoffnungsvoll. „Ich werde ihnen folgen.“ Seine Stimme war warm und freundlich, so wie seine Augen. „Darf ich euch folgen?“ Seine Stimme kratzte und hang, doch die Worte kamen über seine Lippen.

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Nun wurde der Blick des Wanderers ernster, eine Wolke der Trauer flog durch sein aufrichtiges Gesicht. Er streckte die Hand Lestavi entgegen und ließ sie in der Luft zwischen ihnen verharren. „Noch nicht. Mein Freund. Es erwartet dich. Es braucht dich.“ Über seine Augen hatte sich ein Schleier gelegte, Düsterniss hatte sich in seine Stimme geschlichen. „Deshalb musst du alleine gehen, doch gedenke ... wir erwarten dich.“ Nun hatte sich ein sanftes Lächeln auf seine Lippen gelegt. Es war das Lächeln eines Mannes dem man nichts mehr nehmen konnte, der dem Teufel in die Hand gespuckt hatte und trotzdem sich selbst nie verloren hatte. Seine Hand bebte unmerklich und es schien Lest beinahe, als hätte sich der Fremde nach Vorne gebeugt, wie um sich vor ihm zu verbeugen.

Ein Schauer lief über sein Herz. Wie in Zeitlupe ergriff er die im angebotene Hand. Es war eine Hand voller Schwielen, die viel harte Arbeit gesehen hatte. Doch sie strahlte auch eine natürliche Wärme aus, die in sanftem Kontrast zu der kristallenen Kälte stand, die sie umfing. Ein letztes Mal begegneten sich ihre Blicke, Lest blickte in ein unendliches Schwarz und erneut hatte er das Gefühl, dass seine Fragen doch bereits beantwortet waren. Dann richtete sich der Wanderer auf und bewegte sich rückwärts zurück in die Spur seiner Gefährten, die beinahe am Horizont verschwunden waren. Stetig hielt er den Blick auf Lest gerichtet, der nun wieder seine Bewegungen durch den Schnee verfolgte. Er verschmolz mit der Fährte seiner Vorgänger und schließlich, mit einem finalen Ruck wendete er sich wieder in die Wanderrichtung der Kolonne und begann mit schnellen Schrittes dem Pfad zu folgen. Den Kopf hatte er noch immer zur Seite Richtung Lest gerichtet, und dieser meinte erneut den Schleier aus Trauer in seinen Augen erkennen zu können. Dann war er auch nur noch ein schwarzer Tupfer in der endlosen, weißen Steppe, auf die unaufhörlich die Schneeflocken hinab rieselten.

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